Das Leben kann einem eine Menge Rätsel aufgeben, vorausgesetzt, man schaut mit wachen Augen in die Welt. Die Luftmatratze, die hinausgeschoben wird aufs offene Meer – welche Geschichte endet oder beginnt da? Die hermetisch verschlossene Box – entwickelt sie sich, einmal im Zimmer abgestellt, nicht ganz schnell zum magischen Zentrum des Denkens und Handelns? Der Abstieg – kaum glaubt man, endlich seinen Weg gefunden zu haben, weicht das Vertraute neuerlich zurück. Und man selbst, kann man sich denn wenigstens auf sich selbst
verlassen? Darauf, daß man richtig wahrnimmt? Richtig reagiert? Etwa wenn der Schrei eines Mädchens durch die Wände dringt oder wenn bei einer Wanderung zu den Quellen des Wasserfalls einer nach dem anderen zurückbleibt? Nicht unbedingt. Und dennoch liegt über den Erzählungen ein gelöster, heiterer Ton. Sehnsucht verschränkt sich gern mit ironischer Distanz, Utopie mit früher Abgeklärtheit, der Weg zum anderen endet in einer eleganten Pirouette – man zieht den Hut und grüßt erst wieder aus der Ferne.
Diese Geschichten sind voller Esprit, Lust am Gedankenspiel, voller überraschender Einfälle und Wendungen, doch unter der sich in zahlreichen Facetten spiegelnden Oberfläche ruht die Art von ernsthaften, existentiellen Fragen, die jede Generation neu für sich beantworten muß.
Xaver Bayer zu seinem Buch
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Warum unterhalten sich die Teilnehmer des Durchhaltewettbewerbs über Plinius den Jüngeren? Warum tut Ulrike M. so, als sei sie bewusstlos? Warum fährt Henry Kissinger in einem Taxi, anstatt seinen Dienstwagen zu verwenden? Warum heißt eine Katze wie ein sizilianischer Schriftsteller und warum gibt man einem Hund den Namen „Klischee“? Warum erfahren wir nicht mehr über den berühmten Wald der Nachtigallen? Warum wirkt Napoleon angespannt und abwesend zugleich? Warum verlässt der Bauchredner die einzigen Freunde, die er hat? Warum führt die Höhenstraße so gut wie nirgendwohin? Warum steht da eine Box in der Mitte des Zimmers? Warum wird bei einem Künstlerfest der Begriff „Perichorese“ ins Spiel gebracht? Warum wird man verhaftet, wenn man in Paris auf der Straße spaziert? Warum möchte jemand in einer völlig abgedunkelten Wohnung leben? Warum dieser Amoklauf? Und warum stirbt die Hoffnung auf eine gute Seele nie?
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Ernsthafte Heiterkeit
Der Titel „Die durchsichtigen Hände“ ist dem vorangestellten Leitgedanken aus dem Roman „Lesabendio“ von Paul Scheerbart entnommen. Dieser nahezu vergessene Autor, der eher noch unter Architekten bekannt ist, weil er als Vorkämpfer der Glasarchitektur gilt, hat stets für „mehr Farbenlicht!“ plädiert und dafür gesorgt, dass der Lichtzauber seiner phantastischen Sternwelten in den Glashäusern auf Erden sichtbar wird. Scheerbarts wichtigstes Sinnesorgan ist zweifellos das Auge – kein Wunder also, dass Xaver Bayer, dessen Erzählungen von minutiösen Detailbeobachtungen und optischen Ereignissen getragen werden, ein Zitat Scheerbarts vorausschickt, das außerdem die ernsthafte Heiterkeit dieses Autors unterstreicht, eine Eigenschaft, die in hohem Maße auch auf Bayers kurze Texte zutrifft.
Es gibt in dem Buch keine titelgebende Geschichte, damit wird auch auf das große Thema und auf eine unterschiedliche Gewichtung der Erzählungen verzichtet. Der Band versammelt 22 Texte, die längste Erzählung, „Der Durchhaltewettbewerb“, ist dreizehneinhalb Seiten lang und eröffnet nicht zufällig das Buch. Denn Scheerbarts Lichtzauber, diese geheimnisvolle Kraft, die Material zum Funkeln bringt, erfasst auch den Ich-Erzähler, der mit eingeschrumpelten Fingern, sonnenverbranntem Gesicht und einer Quallenverletzung stundenlang in der Toten-Mann-Stellung im Meer ausharrt, bis ihn die Faszination des „Glitzerspiels“ der Sterne im Wasser beinahe das Leben kostet.
Bayers Figuren sind ebenso wie die Handlungen auf den ersten Blick alltäglich, unverdächtig. So summt der im Meer treibende Ich-Erzähler die Melodie von „La Paloma“ vor sich hin und erfindet dazu einen Nonsenstext. Dass „La Paloma“ bei der Ausschiffung des Sarges von Kaiser Maximilian von Mexiko in Miramare gespielt wurde, steht nicht im Text, dennoch schwingen solche Bedeutungsebenen bei der Lektüre mit, sie antizipieren das Ende einer Geschichte oder verstärken deren Grundton. Gute Texte leben von solchen Mehrdeutigkeiten, die sich über Metaphern und Motive erschließen lassen. Bayer spielt gekonnt damit. Einmal ist es ein autobiographischer Roman von August Strindberg in den Händen eines verhafteten Protagonisten, der bei den Lesern Assoziationen von Psychosen und Sinnesverwirrungen auszulösen vermag, ein anderes Mal eine tote Libelle (das Insekt mit dem ausgeprägtesten Sehsinn!), die durch ein Taxifenster fliegt, in dessen Wagenfond der Erzähler reist, unfähig, den zufällig neben ihm sitzenden Henry Kissinger anzusprechen. Doch bevor der Protagonist das Taxi verlässt, legt er dem Ex-US-Außenminister heimlich die Libelle auf das Bein. Wird Kissinger die Libelle entdecken? Wird er erkennen, dass hier gesehen worden war?
Bayer geht von einfachen Begebenheiten aus: Eine Frau sucht ihre Katze, ein Mann bringt Ordnung in seine Wohnung, ein anderer macht sich auf den Weg ins Büro, doch dann passiert etwas Beunruhigendes oder Unvorhergesehenes. Oft handeln die Geschichten, die in der Ich- oder Wir-Form erzählt werden, vom Versagen in entscheidenden Momenten oder von der Angst zu versagen und sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Mischung aus Selbstbeobachtung und Vorwegnahme der Gedanken der anderen erzeugt komische Situationen. In der Erzählung „Der Innenhof des Komplexes“ – schon der Titel ist doppelbödig – gerät der schüchterne Ich-Erzähler bei der Museumseröffnung eines wiedererkennbaren österreichischen Künstlers unfreiwillig in den Blickfang einer TV-Kamera. Allein die Vorstellung, dass Hunderttausende Zuschauer Zeugen seines „Scheiterns bei Tisch und am Buffet des Künstlerfestes“ werden würden, vergällt ihm nicht nur den Abend, sondern ruft Gewaltphantasien gegen den Kameramann in ihm wach.
Obwohl Bayer nicht dezidiert auf die notwendigen und lässlichen Begleiterscheinungen des literarischen Schaffensprozesses eingeht, lassen sich doch viele Texte als Parabeln dazu lesen. In „Der Wasserfall“ starten elf Personen, die der Zufall zusammengebracht hat, eine Expedition; einer nach dem anderen scheitert am kräfteverzehrenden Gelände und gibt auf, nur der Protagonist, der sich zuletzt sogar von seiner Geliebten verabschieden muss, erreicht jenes “andere“, „Große“ und „Unruhige“: „(..) und ich hielt aus eigenem Willen inne und drehte ganz langsam meinen Kopf, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen.“ Der unabgelenkte Blick, das macht der Text deutlich, ist nur möglich, wenn man alles und alle zurückgelassen hat.
Bayers Augen sehen sehr genau, das hat er schon in seinen vorangegangenen Büchern gezeigt. Und er ist alles andere als ein Unterhaltungsschriftsteller. In der Erzählung „Künstlerische Freiheit“ versucht der Ich-Erzähler Thalia, die Muse der Unterhaltung und der komischen Dichtung, anzurufen, aber erst wählt er die falsche Nummer, dann läuft nur der automatische Tonbanddienst. Am Ende ist der Mann auf sich selbst zurückgeworfen. \r\nInspiration, Imagination, Interpretation – auch um diese Begriffe kreisen die Erzählungen. Einer der Protagonisten in Bayers Buch nimmt an einer nachgestellten Schlacht gegen Napoleon teil; die genauen Beschreibungen des fingierten Umfelds, von der Beschaffenheit des Bodens bis hin zum „Klanggewebe“, schaffen eine Authentizität, dass man den Schein für die Realität zu halten gewillt ist, als wäre Tolstoj am Werk gewesen, auf dessen „Krieg und Frieden“ denn auch augenzwinkernd Bezug genommen wird: „einen gemeinsamen Atemzug lang“ treffen sich die Blicke des falschen Napoleon und des sich wohl für Fürst Andrej haltenden Ich-Erzählers.
Das Changieren zwischen Schein und Sein, Innen- und Außenperspektive, Vertrautem und Unvertrautem („Der Abstieg“) macht dem Autor sichtlich Vergnügen, so schildert er die Autofahrt eines Paares einerseits aus dem Blickwinkel des Mannes, der diese gewöhnliche Fahrt als Kunstwerk, als „Teil einer Videoinstallation“ imaginiert, andererseits schneidet er Episoden aus einem Kindheitsfilm seiner Freundin dazwischen, Bilder, die sich bei ihm „nach Zufallsprinzip in Erinnerung rufen“, um am Ende die eigene Situation in die Vorstellungswelt eines Fremden, der gerade auf der anderen Straßenseite auftaucht, zu transponieren. So entsteht Literatur, und so kann sie auch funktionieren: in einer permanenten Übertragung und Verfremdung, die verhindert, dass das Intime preisgegeben wird. Das Kind in dem Kindheitsfilm läuft auf den Wald zu, es läuft vor der Kamera davon und hält sich die Hand vor den Mund, so dass seine Worte nicht einmal von einem Lippenleser gelesen werden können. Eine starke Szene, die uns gleichzeitig vorführt, welche Kraft und welcher Zauber dem Ausgesparten innewohnen.
Doch was geschieht, wenn gar nichts mehr zu sehen ist? In einer meiner Lieblingserzählungen sind zwei Männer damit beschäftigt, einen Raum abzudunkeln. Währenddessen erhält der Erzähler ständig mitteilungslose SMS. Das letzte Licht im Raum stammt von einer weiteren textlosen Nachricht, die das Display des Handys erhellt, dann schaltet sein Besitzer das Gerät aus. Es herrscht absolute Finsternis. Der Erzähler bricht daraufhin in irres Gelächter aus.\r\nDas Ungeheuerliche findet eben in der Phantasie statt. Nichts Schöneres als den Realitätsbezug zu verlieren, wenn man, wie in den wundersamen und geheimnisvollen Geschichten Xaver Bayers, mit grotesken Einfällen und überraschenden Pointen belohnt wird.\r\n„Sind die Schöpferwonnen nicht so groß, dass sie das bisschen Leiden aufwiegen?“ schrieb Paul Scheerbart an den böhmischen Zeichner Alfred Kubin, der die Erstausgabe seines Romans „Lesabendio“ illustrierte. Im Falle Bayers müssen sie groß gewesen sein.
Sabine Gruber, Volltext
Für mich der wichtigste Erzählband des Herbstes.
Michael Braun
"Die durchsichtigen Hände" sind eine wirklich feine Sache. Respekt.
Winfried Radl, APA
Xaver Bayer gehört nun endgültig zur Spitze der jungen österreichischen Literaturszene. Pop ohne Pop oder einfach gute Literatur.
Philipp Haibach, Die Welt
Stille Ernsthaftigkeit ist eingekehrt, mitunter vermeint man, einen jüngeren Handke zu lesen. An kleinen, scheinbar nebensächlichen Begebenheiten spielt Bayer Grundfragen der menschlichen Existenz durch - "die Rätsel des Lebens."
Sebastian Fasthuber, Falter
Der Erzählband versammelt Geschichten Verlorener; sie durchleben eie Gedankenodyssee "zwischen Anpassung und Verweigerung" (so die Jury, die Bayer den Hermann-Lenz-Preis zuerkannte). Ihre Sinnsuche gießt Bayer in unerschöpflich sich ausbreitende Erzähloberflächen.
Isabella Hager, Der Standard
Die Fabulierkraft dieses jungen Österreichers verursacht metaphysische Schwindelgefühle, die nach Lesen seines Erzählbandes noch lange anhalten. Ein fabelhaftes Buch.
Michael Braun, WDR Gutenbergs Welt